Neue Grundsicherung – Vollständige Streichung eher verfassungswidrig.

Die Diskussion um Sanktionen im Sozialrecht flammt immer wieder auf – insbesondere, wenn es um Menschen geht, die jegliche Mitwirkungspflicht gegenüber dem Jobcenter verweigern. Während die Politik argumentiert, dass völlige Leistungsverweigerung keine Unterstützung rechtfertige, warnen Verfassungsrechtler vor einem gefährlichen Tabubruch. Denn mit der vollständigen Streichung auch der Unterkunftskosten wird ein Grundpfeiler des deutschen Sozialstaates infrage gestellt: das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.
Die neue Grundsicherung – Streichung der Unterkunftskosten bei Totalverweigerern – ein Bruch mit der Menschenwürde?
Die Vorgeschichte: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019
Im November 2019 hat das Bundesverfassungsgericht ein wegweisendes Urteil gefällt. Es erklärte die bis dahin möglichen harten Sanktionen im Hartz-IV-System teilweise für verfassungswidrig. Nach dem damaligen Urteil sind Leistungskürzungen zwar grundsätzlich erlaubt, aber nur in einem engen Rahmen. Konkret darf das Jobcenter höchstens 30 % des Regelbedarfs kürzen, und auch das nur dann, wenn sich ein Leistungsberechtigter weigert, zumutbare Pflichten zu erfüllen. Eine Kürzung von mehr als 30 % oder gar die vollständige Streichung der Leistungen widerspricht dem Grundgesetz – genauer gesagt, dem Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 20 GG, der die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip schützt.
Menschenwürde ist unverfügbar
Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil betont, dass das Existenzminimum eines Menschen nicht vom Wohlverhalten abhängig gemacht werden darf. Dieses Minimum umfasst nicht nur das, was man zum physischen Überleben braucht – also Nahrung, Kleidung und Hygiene –, sondern auch die Unterkunft und Heizung. Ohne eine gesicherte Wohnung drohen Obdachlosigkeit, soziale Isolation und der Verlust grundlegender Lebensperspektiven. Selbst wenn jemand alle Termine beim Jobcenter ignoriert und keinerlei Mitwirkung zeigt, bleibt das Recht auf menschenwürdige Existenz bestehen.
Der neue politische Ansatz: Nulltoleranz gegenüber „Totalverweigerern“
Mit der Reform des Bürgergeldes und der Sozialhilfe wurden die Sanktionsmöglichkeiten erneut verschärft. Nun sollen Personen, die sich über längere Zeit nicht beim Jobcenter melden oder vollständig die Kooperation verweigern, keine Leistungen mehr erhalten – auch nicht für Unterkunft und Heizung. Diese Regelung betrifft die sogenannten „Totalverweigerer“. Die politische Begründung lautet, dass der Staat niemanden unterstützen müsse, der sich völlig verweigere und keinerlei Bereitschaft zeige, Verantwortung für die eigene Lebenssituation zu übernehmen.
Juristische und ethische Bedenken
Juristen, Sozialverbände und Menschenrechtsorganisationen warnen jedoch vor dieser Praxis. Eine vollständige Leistungsstreichung, insbesondere der Unterkunftskosten, gefährdet unmittelbar das Existenzminimum und damit die Menschenwürde. Der Staat würde Menschen faktisch der Obdachlosigkeit preisgeben – ein Zustand, der nach dem Verständnis des Grundgesetzes unzulässig ist.
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2019 ausdrücklich festgehalten, dass Sanktionen „nicht zu einer Unterdeckung des Existenzminimums führen dürfen“. Auch wenn der Gesetzgeber die Pflicht zur Mitwirkung betont, darf die Sanktionierung niemals so weit gehen, dass der Betroffene sein Dach über dem Kopf verliert.
Ein Konflikt zwischen Pflicht und Recht
Der aktuelle politische Kurs stellt die Frage nach der Balance zwischen Eigenverantwortung und staatlicher Fürsorge. Einerseits ist nachvollziehbar, dass der Staat Anreize schaffen möchte, damit Menschen sich um Integration in Arbeit oder Ausbildung bemühen. Andererseits muss er sicherstellen, dass auch diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer völlig aussteigen, nicht in existenzielle Not geraten. Das Grundgesetz verpflichtet den Staat, die Würde des Menschen „unantastbar“ zu achten und zu schützen – unabhängig vom Verhalten des Einzelnen.
Praktische Folgen: Obdachlosigkeit und soziale Verelendung
Wenn die Unterkunftskosten gestrichen werden, droht nicht nur der Verlust der Wohnung. Viele Betroffene geraten in eine Abwärtsspirale: ohne Wohnung keine Postadresse, ohne Adresse kein Zugang zu staatlichen Leistungen, ohne Leistungen keine medizinische Versorgung. Es entsteht ein Teufelskreis, der Menschen dauerhaft aus dem sozialen System ausschließt. Dies widerspricht dem Ziel des Sozialstaates, Teilhabe zu ermöglichen und soziale Sicherheit zu gewährleisten.
Ein verfassungsrechtlicher Sprengsatz
Es ist absehbar, dass diese neue Regelung in naher Zukunft erneut vor dem Bundesverfassungsgericht landen wird. Schon heute sehen viele Verfassungsrechtler darin einen klaren Verstoß gegen das Grundgesetz. Denn das Existenzminimum darf laut Karlsruhe weder politisch noch administrativ zur Disposition gestellt werden. Der Staat kann Mitwirkungspflichten einfordern, aber er darf niemanden in eine Situation zwingen, die das Überleben gefährdet.
Sozialstaat oder Strafsystem?
Die Diskussion über Sanktionen im Bürgergeld wirft eine grundsätzliche Frage auf: Soll der Sozialstaat Hilfe bieten oder Strafe? Wer Unterstützung an Bedingungen knüpft, riskiert, den eigentlichen Sinn sozialer Sicherungssysteme zu verlieren. Ein Sozialstaat darf nicht zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen unterscheiden. Die Hilfe muss immer das Ziel haben, Menschen wieder in ein selbstbestimmtes Leben zu führen – nicht, sie auszugrenzen.
Fazit: Nicht rechtens und moralisch fragwürdig
Die vollständige Streichung der Unterkunftskosten bei Totalverweigerern ist mit hoher Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig. Sie steht im Widerspruch zu Artikel 1 GG und dem Grundsatz der Menschenwürde. Auch wenn der Staat das Verhalten mancher Empfänger als provokant empfindet, darf er nicht das Recht auf ein Dach über dem Kopf entziehen. Es geht nicht um Milde oder Härte – es geht um die Grenze, die das Grundgesetz zieht. Und diese Grenze ist klar: Das Existenzminimum darf nicht an Bedingungen geknüpft werden.
Wer sich in Zukunft gegen eine solche Kürzung wehren muss, kann sich also mit guten Gründen auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2019 berufen. Denn die Menschenwürde – das Herzstück unserer Verfassung – gilt für alle. Auch für jene, die das System ablehnen.
Fazit: Nicht rechtens, moralisch fragwürdig – und politisch kurzsichtig
Die vollständige Streichung der Unterkunftskosten bei Totalverweigerern ist mit hoher Wahrscheinlichkeit verfassungswidrig. Sie steht im Widerspruch zu Artikel 1 GG und dem Grundsatz der Menschenwürde. Auch wenn der Staat das Verhalten mancher Empfänger als provokant empfindet, darf er nicht das Recht auf ein Dach über dem Kopf entziehen. Es geht nicht um Milde oder Härte – es geht um die Grenze, die das Grundgesetz zieht. Und diese Grenze ist klar: Das Existenzminimum darf nicht an Bedingungen geknüpft werden.
Was dabei besonders bemerkenswert ist: Die Regierung weiß sehr genau, dass dieser Schritt juristisch und gesellschaftlich riskant ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Grenzen klar gezogen, und unzählige Fachjuristen haben vor einer Wiederholung früherer Fehler gewarnt. Trotzdem wird politisch eine harte Linie gefahren – vermutlich, um gegenüber der Öffentlichkeit Stärke zu demonstrieren und das Bürgergeld-Image von „Zuwenig Fordern“ zu korrigieren. Der Kurs richtet sich weniger nach juristischer Vernunft als nach politischer Symbolik.
Dabei dürfte klar sein, dass der Schuss nach hinten losgeht. Wer Menschen völlig entrechtet, treibt sie nicht in Arbeit, sondern in die Verzweiflung. Die Folge sind mehr Obdachlosigkeit, mehr soziale Notlagen, mehr Kosten für Kommunen und Hilfsorganisationen – und am Ende eine noch größere Entfremdung zwischen Staat und Bürgern. Gerade diejenigen, die ohnehin kaum Vertrauen in Behörden haben, werden sich durch solche Maßnahmen vollends abwenden.
Anstatt mit drakonischen Sanktionen Druck zu erzeugen, wäre es sinnvoller, die Ursachen für Totalverweigerung zu verstehen: psychische Erkrankungen, Schulden, Perspektivlosigkeit oder schlicht Angst vor Behörden. Nur wer hier ansetzt, kann Menschen wirklich wieder integrieren.
Wer glaubt, Härte ersetze Verständnis, irrt. Der Sozialstaat verliert seine Legitimation nicht, weil er hilft – sondern weil er bestraft, wo Hilfe gebraucht wird, auch bei den sog. Totalverweigerern, denn diese Menschen haben ihre Haltung aus bestimmten persönlichen Gründen gegenüber dem Staat aufgebaut und letztlich betrifft dies eine absolute Minderheit, die auch einen Minderheitenschutz genießen.
Der Minderheitenschutz ist ein tragendes Prinzip der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Er ergibt sich nicht aus einem einzelnen Artikel, sondern aus dem Zusammenspiel mehrerer Verfassungsgrundsätze: Menschenwürde (Art. 1 GG), Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) und Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG). Diese Prinzipien schützen gerade diejenigen, die keine politische oder gesellschaftliche Lobby haben – also Minderheiten, Randgruppen oder Menschen, die „aus dem System gefallen“ sind.
Auch „Totalverweigerer“ zählen dazu. Juristisch betrachtet sind sie eine extreme Minderheit unter den Leistungsbeziehern – Schätzungen sprechen von unter einem Prozent. Genau deshalb greift der Minderheitenschutz hier besonders: Der Staat darf gerade gegenüber kleinen Gruppen, die gesellschaftlich wenig Rückhalt genießen, nicht mit unverhältnismäßiger Härte reagieren. Der Schutz der Menschenwürde ist nicht relativ, sondern absolut – er gilt auch für diejenigen, die sich nicht regelkonform verhalten oder das System bewusst ablehnen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen betont: Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat, nicht Belohnungen für Wohlverhalten. Selbst wer alle Mitwirkung verweigert, bleibt Grundrechtsträger. Das bedeutet: Der Staat muss selbst für die kleinste, unbeliebteste Minderheit die Mindeststandards des Existenzschutzes wahren.
Politisch gesehen wäre es also ein Widerspruch, einerseits Minderheitenschutz in anderen Bereichen – etwa für ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten – zu betonen, andererseits aber den sozial Schwächsten diesen Schutz zu verwehren, weil sie unbequem sind. Der Sozialstaat darf keine Unterscheidung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Hilfebedürftigen machen.
Oder anders gesagt:
Gerade weil Totalverweigerer eine so kleine Minderheit darstellen, sind sie auf den Schutz durch die Verfassung besonders angewiesen. Die Demokratie zeigt ihre wahre Stärke nicht im Umgang mit der Mehrheit, sondern darin, wie sie mit ihren Schwächsten umgeht.